Dr. Jochim Ziegler
Vom Heimatforscher zum Lokalhistoriker
Von vielen unbemerkt ist ein Bedeutungswandel zu verzeichnen: weg vom zuvor belächelten Heimatforscher - hin zum
Lokalhistoriker.
Lokalhistoriker - nur eine Namensänderung? Der Autor legt dar, daß gerade der viel zu oft wurzellose Mensch von heute, der landesweit durch
das Arbeitsleben treibt oder getrieben wird, Probleme hat, im alten Sinne sesshaft zu sein, trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - ein wachsendes Bedürfnis hat, seine lokalen geschichtlichen
Wurzeln zu erkennen. Und so, ja, wieder ein Stückchen ”zu Hause” zu sein. Heimatbindung im besten Sinne zu empfinden, zu erleben, zu erfühlen, Sicherheit und Orientierung zurück zu
gewinnen
Der Lokalhistoriker von heute ist der kundige Wegweiser.
Zur Deutung eines Etikettenwechsels
Der Heimatforscher war in vielen kleineren Ortschaften oder Dörfern schon im vorigen Jahrhundert eine selbstverständliche Institution. Oft
bekleidete dieses Amt ein noch aktiver oder schon pensionierter Lehrer, der – falls es das im Ort gab – den Heimatverein leitete, ein kleines Museum betreute und in allen Fragen, die die
Geschichte der Gemeinde betrafen, als kompetent galt. Manchmal hatte er auch ein kleines Buch verfasst, in dem Daten und Fakten der engeren Heimatgeschichte zusammengetragen waren. Trotz dieser
gemeinnützigen Aktivitäten wurde er oft belächelt; denn er gab sich gern einen wissenschaftlichen Anstrich, obwohl er diesem nicht immer gerecht werden konnte. Auch von der großen Forschung wurde
er nicht ernst genommen, da diese ganz andere - und aus ihrer Sicht natürlich viel wichtigere - Bereiche interessierte. Geschichtsschreibung war früher vor allem die Darstellung des Lebens und
Wirkens von Kaisern, Königen, Päpsten und Präsidenten, und dazu konnte der Heimatforscher tatsächlich kaum etwas beitragen. Inzwischen hat sich einiges in der Bewertung von Vergangenheit
geändert: auch die Geschichte von unten ist in ihrer Bedeutung relevant geworden, bestehen doch Staaten ebenso wie Gemeinden nur zum geringsten Teil aus Regierenden oder Angehörigen der
Oberschicht, während den weitaus größten die Mittel- und Unterschichten ausmachen. Durch diesen Kurswechsel haben auch andere historische Forschungsaspekte gewonnen, die bisher nur eine
unbedeutende Nebenrolle gespielt haben, wie die Wirtschafts-, die Sozial- und die Mentalitätsgeschichte. Diese neuen Fragestellungen bewirkten einen Trend von der Staaten- und Landesgeschichte
zur Regionalgeschichte. Entwicklung und Wandel sozialer Strukturen auf dem platten Lande wurden plötzlich attraktiv, und das ist natürlich eines der ursprünglichen Felder des Heimatforschers;
denn weder die großen Archive noch die Bibliotheken der Universitätsinstitute konnten hier mit ausreichendem Quellenmaterial dienen, während ihm Familienchroniken, Kirchenbücher und andere
aussagefähige Dokumente in der Gemeinde zugänglich sind. Etwa gleichzeitig mit dieser Aufwertung setzte sich eine neue Bezeichnung durch: aus Heimatforschung wurde Lokalhistorie. Das Fremdwort
beinhaltet zwar nichts anderes als der bisherige deutsche Begriff. Seine Einführung scheint aber zu bestätigen, dass sich hier ein Vorstellungswandel vollzogen hat, der daraus resultiert, dass
man auch den lokalgeschichtlichen Aktivitäten eine wissenschaftliche Bedeutung nicht mehr absprechen kann oder will.
Parallel dazu lief eine andere Entwicklung, deren Wurzeln zwar älter sind, die aber erst in der Gegenwart zu ihrem Höhepunkt kam und für die
Verwendung des neuen Begriffs ein weiteres Motiv bot. Sie soll im Folgenden kurz skizziert werden:
Schnelllebigkeit, wirtschaftlicher und berufliche Mobilität sowie die damit verbundene Unsicherheit des Wohnsitzes haben der Vorstellung von
Heimat einen anderen Stellenwert gegeben. Wurde sie noch im 18. Jahrhundert mit Heim oder Haus, in dem man im Regelfalle sein ganzes Leben verbrachte, gleichgesetzt, so kam es schon mit der
industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert zu einem deutlichen inhaltlichen Wandel: die veränderten wirtschaftlichen und beruflichen Gegebenheiten ließen viele Menschen ihre Beziehung zur
Heimat dort suchen, wo sie jeweils lebten und arbeiteten – wenn sie an einer solchen Suche überhaupt interessiert waren. Denn dafür wurden ihnen Aktivitäten abgefordert, man musste sich in der
Heimat - genauso wie in der jeweiligen Wohnung - erst einmal einrichten. Eine Beziehung zum Heimatort konnte nicht allein aus der Tatsache erwachsen, dass man dort wohnte, arbeitete, einkaufte
und seine Freizeit gestaltete. Dazu gehörte auch die Kenntnisnahme, Einordnung und Bewertung seiner geschichtlichen Voraussetzungen. Wollte man einer Gemeinde wirklich zugehören, dann konnte man
nicht einfach ihr gegenwärtiges äußeres Profil sowie ihre sozialen und wirtschaftlichen Konstellationen als natürlich gegeben und schon immer so gewesen hinnehmen. Grundlage der neuen
Positionsbestimmung musste die Aneignung der tradierten Vorgaben und Besonderheiten des lokalen Umfeldes werden, und das forderte geradezu auf zu Neugierde und Aktivität. Auf eine solche
historisch gestützte Identifikation konnte eigentlich nur derjenige verzichten, der den Ort ausschließlich zum Schlafen benutzten wollte.
Gleichzeitig mit diesen Vorgängen bemächtigte sich die Politik der Heimat. Das 1871 gegründete Kaiserreich musste den Untertanen neue
Identifikationsmöglichkeiten bieten, um ein entsprechendes Engagement für seine innen- und außenpolitischen Ziele einfordern zu können. Heimat wurde mit Vaterland gleichgesetzt. „Am deutschen
Wesen soll die Welt genesen“, war einer der markigen Aussprüche des letzten deutschen Kaisers. Für den nicht nur in diesen Worten deutlichen Expansionsdrang musste auch die Heimat mobil und
exportierbar werden. Selbst von Auswanderern wurde erwartet, dass sie sogenannte „Deutschtumsinseln“ im von ihnen bewohnten Ausland bildeten.
Das Dritte Reich missbrauchte die bei der Mehrheit der Deutschen vorhandene emotionale Bindung an die Heimat erst recht. Seine „Blut- und
Bodenpolitik“ pervertierte jeden Aspekt, der mit ihr verbunden war. Von Soldaten und Zivilisten, Männern und Frauen, Jungen und Alten forderte die Führung rücksichtslos den totalen Einsatz für
die „Heimat“. Im Verlauf des Krieges wurde sie sogar zur „Heimatfront“ umstilisiert, an der jeder Deutsche bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen hatte.
Verständlicherweise verschwand der Heimatbegriff nach dem Krieg vorläufig aus der Wissenschaft, und nur die Vertriebenen beriefen sich weiter
auf ihn. Bedarf war indes immer noch; denn viele Deutsche waren durch den Krieg und seine Folgen erst recht entwurzelt, und auch die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit stellte für
weite Kreise der Bevölkerung einen festen Standort in Frage. Die Lücke füllte ein Genre, das schon im Dritten Reich vor allem im Film seinen ideologischen Stellenwert ausgewiesen
hatte.
Es kam die große Zeit der Heimatfilme, -romane und -lieder, und dieser Trend hat bis heute angehalten. Wenn man davon ausgeht, dass dem
Konsumenten Heimat als ein greifbarer, gesicherter und geographisch bestimmbarer Standort angeboten werden sollte, dann gerät man bei genauerer Prüfung dieser Medienofferten in deutliche
Schwierigkeiten. Von Freddy über Heino bis zu den Wildecker Herzbuben wird die Heimat besungen. Filme, die, wie der Genre-Klassiker „Der Förster vom Silberwald“, in einer nicht näher
lokalisierbaren Berglandschaft spielen, Lore-Romane und andere Groschenhefte verklären das, was sie den Lesern als Heimat anbieten wollen, bis zur Utopie. Das, was sie präsentieren, ist Heimat
„von der Stange“, künstlich gefertigt, eine pure Illusion auf Zeit, die zuende ist, wenn man das Kino verlässt, das Fernsehen abschaltet oder das Romanheft aus der Hand legt. Vor allem im
Fernsehen ist Heimat ein bloßes Phantom. Sie besteht aus Pappmaschee und Styropor und hat ihren Ort im Regelfalle in irgendeinem Studio. Wenn die Sendung beendet ist, wird sie einfach wieder
abgeräumt. Was hier vorgeführt wird, ist eine Traumwelt, die an die Gefühle appelliert und den Verstand draußen vor lässt. Selbst Heimatabende oder Trachtenveranstaltungen am Urlaubsort bieten
nur eine Scheinwirklichkeit; denn den Zuschauern wird hier nicht ihre eigene Heimat vermittelt, sondern - wenn sie Glück haben - die der Darsteller. Selbst Trachten, die von diesen getragen
werden, entspringen gelegentlich der Phantasie und lassen bei genauerem Hinsehen kaum einen Bezug zu lokalen Traditionen erkennen.
Heimat soll etwas sein, das dem Individuum in unserer schnelllebigen und unbeständigen Zeit eine sichere Basis bietet. Man bekommt sie
allerdings nicht auf dem Tablett serviert, sondern muss sie sich erst erwerben. Diesem Anspruch kann das Medienangebot in keiner Weise gerecht werden. Es setzt auf Passivität und Konsumhaltung
und füllt damit diese Lücke nicht, sondern reißt sie eher noch weiter auf.
Es ist klar, dass die traditionelle Heimatgeschichte vermeiden wollte, dass ihre Forschungsaktivitäten in die Nähe dieses Genres gerückt
wurden. Deshalb war sie nur zu gerne bereit, das neue Etikett zu akzeptieren. Als Lokalhistorie wurde es eine ihrer vordringlichen Aufgaben, durch klare Abgrenzung zu zeigen, wo Heimat in den von
den Medien vorgestellten Versionen nur vermarktet und dabei bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Der Bezug zur Heimat, den sie kontrastierend vermitteln kann, dürfte dagegen demjenigen
entgegen kommen, der sich ihr nicht primär mit dem Bauch, sondern mit dem Kopf nähern will. Dazu kann sie Funde, Denkmäler und literarische Quellen des näheren Umfeldes auswählen, ordnen und
deuten und damit zuverlässige Hilfen zur Füllung der aufgezeigten Lücke bieten. Diese Aufgabe ist keineswegs neu, aber sie ist zeitweise in den Hintergrund gerückt worden. Denn diejenigen, die
ihr - allein oder im Verein - gerecht werden wollten, gaben häufig auf, weil sie glaubten, gegen das übermächtige Medienangebot nicht antreten zu können. Ihr Irrtum lag darin, dass sie Fernsehen,
Film und Schlager überhaupt als Konkurrenz betrachteten. Viele Lokalhistoriker haben dieses Dilemma inzwischen überwunden und bemühen sich, vor allem den intellektuellen Bedürfnissen ihrer
Mitbürger entgegenzukommen. Sie verdienen ihren neuen Titel zu Recht, und Heimatinteressierte, die gelegentlich am Medienangebot verzweifeln, werden ihnen sicherlich dankbar
sein.
Der Beitrag des Autors wurde von der Frankfurter Rundschau am 5.1.2000 als Gastbeitrag in gekürzter Form veröffentlicht. Mit freundlicher
Erlaubnis des Autors bringen wir die vollständige Fassung.