Hat dieser Krieg in der Ukraine eine Bedeutung für regionale Heimat- und Geschichtsvereine?

 

In Europa Herrscht Krieg. Ein Krieg der Waffen und Worte und nicht zu unterschätzen ein Krieg der Propaganda. Dieser Propagandakrieg bedient sich der Geschichte, die er in seinem Sinne interpretiert, ja man kann auch sagen verfälscht, um eigene Handlungen in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen.  Geschichte wird so nationalistisch und mit Ressentiments aufgeladen um ein hohes Identifikationspotenzial in der Bevölkerung zu schaffen. Glorreiche Siege und makellose Helden, ein starker Staat und soziale Stabilität stehen im Mittelpunkt dieser Geschichtserzählung.

Dunkle Seiten wie die stalinistischen Repressionen werden in dieser Geschichte systematisch ausgeblendet. Dafür wurden Gesetze erlassen, die festlegen, dass der Staat «den Schutz der historischen Wahrheit» sichert. Präsident Wladimir Putin versuchte sich wiederholt selbst als Historiker und deutete in pseudo-geschichtswissenschaftlichen Essays die Vergangenheit um, etwa wenn er Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zuschreibt. Stimmen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte anmahnen, werden hingegen systematisch mundtot gemacht. Jüngst wurde Russlands älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit Jahrzehnten für eine faktenbasierte Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte einsetzt, in einem Scheinprozess verboten.

 

Das alles geschah lange bevor Putin die russischen Soldaten in die Ukraine schickte. Es war das Preludium des Ukrainekrieges.

 

Als 1989 die Mauer und in deren Folge der eiserne Vorhang fiel, sprachen führende Historiker des Westens – vollmundig - davon, dass nun das Ende der Geschichte gekommen sei. Sie meinten damit, dass sich nun die östlichen Systeme in das westliche Gesellschaftsmodell des Liberalismus und Kapitalismus nahezu problemlos eingliedern würden. Damit würden auch die Kriege des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten und deren Wunden verheilen. Das war ein Fehler.

Vor diesem Hintergrund möchte ich die Frage an Sie richten: Brauchen wir Geschichte? Oder Konkreter gefragt: Brauchen wir die Kenntnis der Geschichte? Und noch konkreter: Brauchen wir, die von Historikern*innen aufgezeichnete Geschichte? Stellen wir die Antwort – die ich eigentlich schon benatwortet habe - an das Ende meiner Gedanken.

Was Geschichte ist, wissen wir: Sie informiert über den Ablauf der Vergangenheit und gibt einen Überblick über Ereignisse der Welt, bis hinunter auf die lokale Ebene. Sie hält fest, was war und wie etwas war. Wir alle erinnern uns an die Fragen im Geschichtsunterricht: Wann war das und wann war das? Allzu oft nur auswendig gelernte Geschichte.

Auch die Bewahrung von Traditionen, die vielleicht ursprünglichsten Funktion des Erzählens bzw. Aufschreibens von Geschichte, ist Teil der Geschichte.

Noch immer sind wir auf der Ebene von: Gut zu wissen, aber nicht unbedingt für das Leben von großer Bedeutung. Die auswendig gelernten Jahreszahlen in der Schule haben wir fast alle vergessen. Dächten wir so über die Bedeutung von Geschichte, müssten wir uns nicht die Mühe machen, Geschichte zu erforschen und aufzuzeichnen, um sie für die die Nachwelt zu erhalten.

Interessant und bedeutend wird Geschichte, wenn man ihre identitätsstiftende Wirkung hinterfragt, etwa bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen, was ist der Sinn des Lebens. Alle kennen wir diese Fragen, die auf den ersten Blick doch eher in den Bereich der Lebensführung, der Psychologie zu gehören scheinen und nichts mit Geschichte zu tun haben. Im Gegenteil.

Der US-Amerikanische Historiker Gordon A. Craig (1913-2005) schrieb 1981: „Denn Geschichte ist eine humanistische Disziplin. Ihr Hauptgegenstand sind Menschen, und Geschichte ist nicht das Studium von Umständen (also von Jahreszahlen), sondern von Menschen in Umständen.

Menschen in Umständen. Wir alle haben eine Vorgeschichte, wir sind geworden durch unzählige äußere Einflüsse, Erziehung, Traditionen, Erlebnisse. In jedem von uns spiegelt sich die Zeit. Wir sind geworden, wie wird sind, weil die Umstände so sind, wie sie waren. Wir sind nicht einfach nur da, sondern Gewordene in der Zeit. Um dieses Gewordene zu verstehen, dabei hilft Geschichte, die Erforschung und Archivierung der großen Linien und der eigenen ganz persönlichen Linien des Gewesenen. Im Grunde sind wir alle eine Ansammlung an Geschichte.  

Das ist eine wesentliche die Aufgabe von Geschichte, das rechtfertigt den immensen Aufwand den die Geschichtswissen-schaft betreibt, den Historiker betreiben, bis hinunter zu den Heimatvereinen. Ja auch wir haben Anteil an dieser großen Aufgabe von Geschichte. Wer seine eigene Herkunft durch die Zeit kennt, der oder die kann sich selbst besser verstehen.

 

Schon 1789 hat Friedrich Schiller vor Studenten in Jena folgendes gesagt: „Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meinungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten“. Für ihn war Geschichte, die „unvergängliche Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet“ und „unser fliehendes Dasein“ befestigt. Die Kenntnis der Geschichte versetzt den Menschen in die Lage, „sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen und mit seinen Schlüssen in die Zukunft vorauszueilen“.

Fukuyama vertrat die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen würden. Die Demokratie habe sich deshalb als Ordnungsmodell durchgesetzt, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung relativ gesehen besser befriedige als alle anderen Systeme. Diese Einschätzung war, wie ich eingangs sagte, falsch.

Ich will damit in den Worten von George Orwell sagen: Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. 

Daher kann ich sagen: Ja wir brauchen Geschichte. Heute mehr denn je. Gerade im Moment wenn versucht wird, durch Geschichtsfälschungen das eigene kriegsverbrecherische Handeln zu legitimieren und sich selbst zu den Guten zu erklären.

Wer oder was, so frage ich Sie, soll außer der Geschichtswissen-schaft imstande sein, das Gewesene faktenbasiert darzustellen. Wer kann den schamlos geschönten „gloriosen russischen Weg“ entlarven, als das was er ist: Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Dafür brauchen wir detaillierte und faktenbasierte Kenntnisse der Geschichte.

 

Torsten Martin

Vorsitzender

März 2022